Was macht eine Farbe schön?

Kaum ein Thema wird in der Architektur und Innenarchitektur so heiß diskutiert wie das Thema Farbe. Die einen könnten ganz darauf verzichten und mit weißen Baukörpern deren Kubatur und Licht- und Schatteneffekte gestalten, die anderen halten Farben für den Ausdruck modischer Erscheinungen und lassen nur die Eigenfarben von Materialien gelten, wieder andere überziehen die Flächen mit einem gnädigen, vertuschenden Schwarz. Was ist eine „schöne“ Farbe? Diese Frage versucht Dr. Katrin Trautwein zu beantworten.

Gerne setzt man sich mit gelungener Architektur auseinander, die Baukunst bleibt wie ein hinreißendes Lied im Gedächtnis hängen. Was macht ein Bauwerk schön? Die Räume und Hohlräume mit ihrem Licht- und Schattenspiel, die Strukturen und Formen, die Vorder- und Hintergründe bilden und auf Haupt- und Nebensachen verweisen? Wohlbemerkt sind es Farb- und Helligkeitsunterschiede, die diese Elemente und Bedeutungshierarchien sichtbar machen. Die Baukunst wird über ihre Farbunterschiede visuell erfahrbar, und die Wirkung der Farben im Bauwerk ist für die Schönheitsempfindung wesentlich. Das bringt uns zu drei Kernfragen der visuellen Ästhetik: Was macht eine Farbe schön? Welche Farben sind in einem bestimmten Ensemble einzusetzen? Wo wechselt man von einer Farbe zur nächsten? In diesem Beitrag wird die erste Frage behandelt. Schöne Farben laden zum Verweilen ein. Nach meiner Erfahrung als Chemikerin und Erforscherin der Farbpaletten von Luis Barragán, Eileen Gray und Le Corbusier gibt es eine Grundvoraussetzung für Schönheit in Farben: das Pigment. Es ist die Diva – das Bindemittel, beziehungsweise der Farbträger, übernimmt eine dienende Funktion. Viele enttäuschende Erfahrungen mit Farben sind der Tatsache geschuldet, dass die Farbe – ein Material mit materiellen, visuellen und haptischen Aspekten – häufig über den Farbton und das Bindemittel gewählt wird. Auf die Bühne der Architektur tritt somit ein Diener, der nicht singen kann, und die Architektur wirkt abgewertet und dissonant. Das Ziel muss hingegen sein, eine Farbe zu finden, die sich auf die Architektur bezieht und sie unterstützt. Das ist möglich, wenn eine Farbe zum Einsatz kommt, die drei Bedingungen erfüllt: 1. Tiefe – damit wird Haptik und Wert vermittelt, 2. spektrale Vielfalt – damit wird eine harmonische Wirkung mit anderen Farben und mit Kunstlicht garantiert, und 3. Leuchtkraft – denn funkelnde Farben erhöhen die Lichtreflexe und vertiefen die Schatten im Raum. Die Tiefe, die Schönheit garantiert, ist eine Folge der Fähigkeit gewisser Oberflächen, Licht in sich aufzunehmen und es differenziert zu reflektieren. Das setzt Pigmentteilchengrößen voraus, die lichtdurchlässige Poren entstehen lassen. Natürliche Materialien wie Marmor und Naturpigmente wie Veronesergrün bilden solche Poren. Von Menschenhand hergestellte organische Pigmente, die in vielen Abtönpasten, Systemfarben und Mischmaschinen zum Einsatz kommen, sowie Titandioxid und andere mineralische Pigmente, deren Teilchengrößen heute im Nanometerbereich liegen, bilden verschlossene Farbschichten, die Tiefe vermissen lassen.

Schöne Farben werten die Architektur auf – Im architektonisch wichtigen Weiß- und Pastellbereich gewinnt man Tiefe mit dem Verzicht auf Titandioxid, in anderen Farbtonbereichen mit dem Einsatz von Farben aus mehrheitlich natürlichen Pigmenten. Sie werten die Architektur auf und verbessern ihre Umweltbilanz. Der zweite Faktor, die spektrale Vielfalt, bringt Farben Harmonie. Eine Farbe ohne breit ausgefächerte spektrale Wirkung, Ferrari-Rot zum Beispiel, hat eine starke Aktivität in einem Spektralbereich – hier im roten – und sonst so gut wie keine. Harmonische Farben sind im gesamten Spektralbereich aktiv. Die schöne rote Wand, deren Röte einen Regenbogen von anderen Farben in sich birgt, harmoniert mit allen Farben in ihrer Umgebung. Dieselbe Dialogfähigkeit sorgt dafür, dass sie sich mit allen Kunstlichtquellen verträgt. Ferrari-Rot wirkt im kalten Kunstlicht grau und kalt, Pompejianischrot, mit Aktivität im ganzen Spektralbereich, nimmt die Kälte auf und setzt ihr etwas Kraftvolles entgegen. Die dritte Eigen- schaft der schönen Farbe betrifft ihr Spiel mit dem Licht, beziehungsweise, wie sie das Licht zu färben und zu reflektieren vermag. Die Farbe des Lichts im Raum ist vom Leuchtmittelspektrum, aber auch von den Umgebungsfarben abhängig. Ein Beispiel ist das Grün der Waldlichtung – es entsteht im Sonnenlicht, das vom Grünpigment der Blätter reflektiert wird. Luis Barragán erzeugte mit solchen farbigen Reflektionen ergreifende Wirkungen. Stimmung im Raum, die magisch oder monoton, aufdringlich oder geruhsam, kalt oder warm, weich oder hart sein kann, hängt aber nicht nur von der Farbe der Reflektion, sondern auch von ihrer Art ab – das Licht kann gespiegelt oder gestreut werden. Die unterschiedlichen Wirkungen, die von geölten oder mit Polyurethanlack beschichteten Parkettböden ausgehen, veranschaulichen diesen Unterschied. Gestreutes Licht unterdrückt Schatten und erschwert die Orientierung, gespiegeltes Licht lässt Farben leuchten, Schatten farbig in Erscheinung treten und Räume tiefer wirken. Ein Großteil der Pigmente, die heute im Einsatz sind, streut das Licht nur noch, die Pigmente in den Farben früherer Baukünstler haben das Licht gespiegelt. Will man Räume der wortlosen Poesie gestalten, dann wäre jede Farbe im Raum nach ihrer Tiefe, Harmonie und Leuchtkraft zu wählen. So kommen Farbkompositionen zustande, die Architektur im schönsten Licht zeigen.

Katrin Trautwein (kt color), AIT 09/2016